Anne Riecke zu TOP 19 "Besserer Umgang mit Neurodivergenzen an Schule"

Anne Riecke

In ihrer Rede zu TOP 19 (Besserer Umgang mit Neurodivergenzen an Schule) erklärt die bildungspolitische Sprecherin der FDP-Landtagsfraktion, Anne Riecke:

"Die Frage zu diesem Antrag lautet doch grundsätzlich: Wie können wir Kinder mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen so unterstützen, dass sie gute Chancen im Bildungssystem haben? Dass das Lernen für Kinder mit besonderen Bedarfen erleichtert werden muss, steht für uns außer Frage. Aber wie wir dieses Ziel erreichen, darüber müssen wir heute sehr sorgfältig sprechen.

Es beginnt zunächst mit dem unklaren Begriff  'Lerntherapeut'. Was genau ist ein 'Lerntherapeut'? Dieser Begriff ist weder geschützt noch einheitlich definiert. Zwischen pädagogischer Lernförderung, heilpädagogischer Therapie und klinischer Psychologie liegen Welten – fachlich, rechtlich und in der Qualifikation. Wenn wir solche Berufsbezeichnungen in ein mögliches 'Landesprogramm' integrieren sollen, dann brauchen wir klare Standards, klare Zuständigkeiten und klare Qualifikationsprofile. Alles andere führt zu Verwirrung bei Eltern, Schulen und Behörden. Das hilft niemandem – und schon gar nicht den Kindern.

Als nächstes möchte ich auf das Konzept eines flächendeckenden Screenings eingehen. Diese sollen bereits in der ersten Klasse stattfinden. Wir halten das in dieser Form für nicht überzeugend. Ein verpflichtendes Screening erzeugt den Anschein, als müsse jedes Kind möglichst früh einer Diagnose zugeführt werden. Das ist ein enormer Eingriff – fachlich, organisatorisch und auch familiär. Die Realität ist doch, dass nicht alle Eltern eine solche Untersuchung für ihre Kinder wünschen.
Denn nicht alle Kinder profitieren davon. Und nicht jede Diagnose ist im frühen Grundschulalter überhaupt stabil oder sinnvoll. 
Ein flächendeckendes Screening führt im Ergebnis eher zu neuen Ungleichheiten: Kinder bekommen Etiketten verpasst, mit denen sie im Zweifel mehrere Jahre lang zu leben haben. Die Idee eines Screenings ist nicht grundsätzlich falsch – die Ausgestaltung ist jedoch hoch fragwürdig.

Wir Freie Demokraten unterstützen das Ziel, Verbesserungen der Lernbedingungen für alle Kinder herbeizuführen, ausdrücklich. Wir unterstützen auch, dass neurodivergente Kinder bessere Strukturen brauchen. Aber die Vorgehensweise, die die SPD vorschlägt, bleibt an vielen Stellen unscharf. Nochmal: Wer führt konkret die Screenings durch? Welche Qualifikationen haben diese Personen? Wie wird Qualität gesichert? Wie werden Eltern wirklich beteiligt? Wie lange soll ein solches Screening dauern? Und wie soll das alles organisiert werden, während wir auf vielen Ebenen über Fachkräftemangel sprechen? Solange diese Fragen unbeantwortet bleiben, ist der Mehrwert für die Schulen nicht erkennbar.

Was wir wirklich brauchen, sind klare, funktionierende Strukturen im System! Statt neue Begriffe einzuführen und neue Diagnosesysteme aufzusetzen, sollten wir zuerst die bestehenden Strukturen verbessern. Die Anerkennung von Förderschwerpunkten dauert teils über ein Jahr – manchmal kürzer, häufig deutlich länger. Das ist für Familien eine enorme Belastung. Es wäre deutlich hilfreicher, die bereits bestehenden Verfahren zu vereinfachen, die Übergänge zwischen Schularten reibungslos zu gestalten und multiprofessionelle Teams an Schulen deutlich zu stärken. Das ist realistisch, das ist wirksam und das hilft Kindern unmittelbar.

Neurodivergenz ist kein Randthema, kein Lifestylebegriff und keine Modeformulierung. Es handelt sich um ein hochkomplexes medizinisches, pädagogisches und diagnostisches Feld. Und gerade weil Neurodivergenzen so vielschichtig sind, fordern wir eine Ausschussüberweisung in den Bildungsausschuss, um u.a. Expertinnen und Experten aus Medizin, Psychologie und anderen Spezialisierungen sowie Schulträger, Elternverbände und Lehrkräfte anzuhören.

Wir sollten – und das eint hoffentlich alle Fraktionen – dafür sorgen, dass Kinder mit unterschiedlichen Lernbedarfen frühzeitig gesehen, verstanden und unterstützt werden. Aber das gelingt nur mit klaren Konzepten, nachvollziehbaren Abläufen und einem realistischen Blick auf unsere Strukturen. Der Antrag enthält gute Intentionen, aber in der derzeitigen Form bleibt vieles unklar. Deshalb werben wir dafür, ihn in den Ausschuss zu überweisen, um dort fachlich fundiert weiterzuarbeiten."

Sperrfrist Redebeginn!

Es gilt das gesprochene Wort.