Extremismus/ Geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung

Jan Marcus Rossa zu TOP 62 „Geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der personellen und strukturelle Kontinuität“

Jan Marcus Rossa

In seiner Rede zu TOP 62 (Folgestudie: Geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der personellen und strukturelle Kontinuität nach 1945 in der schleswig-holsteinischen Legislative und Exekutive) erklärt der innen- und rechtspolitische Sprecher der FDP-Landtagsfraktion, Jan Marcus Rossa:

„Ich danke Ihnen und Ihrem Team für die geleistete Forschungsarbeit. Als Mitglied des Beirats durfte ich Ihre Arbeit mit Abstand begleiten und war fasziniert von Ihrer methodischen Herangehensweise und den Erkenntnissen, die Sie aus Ihrer Arbeit zogen. Sie leisten damit einen ganz wichtigen Beitrag für die Aufarbeitung unserer NS-Vergangenheit und weisen deren Kontinuität in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland nach. Sie verfolgen einen methodischen Ansatz, der – soweit ich dies als Laie beurteilen kann – einzigartig ist. Die Datenmengen, die Sie ermittelt haben, um Lebensläufe zu durchleuchten und historisch einordnen zu können, und die die Grundlage dafür gewesen sind, dass Sie in der Lage waren, die für Ihre Forschung relevanten Personen nach Grundorientierungen zu sortieren und dann innerhalb dieser Grundorientierung eine verfeinernde Typisierung vorzunehmen, sind beeindruckend. Wir haben an Beispielen, die Sie uns auch heute vorgestellt haben, nachvollziehen können, mit welcher Akribie Sie vorgegangen sind und wie verantwortungsvoll Sie Lebensläufe bewertet und eingeordnet haben. Mein Dank gilt aber auch meinem Kollegen Burkhard Peters, dessen Initiative wir die erste und nun auch die zweite geschichtswissenschaftliche Kontinuitätsstudie zu verdanken haben.

Wir haben eine besondere Aufarbeitungskultur in Deutschland. Wenn es um die Frage geht, wie stark die Eliten des Dritten Reichs auch in der Bundesrepublik Deutschland gewirkt haben, wenn wir herausfinden möchten, wie stark politische, gerichtliche oder behördliche Entscheidungen durch NS-Gedankengut beeinflusst oder sogar geprägt waren, dann muss man sich alle Protagonisten anschauen, die Schlüsselpositionen vor dem 08. Mai 1945 und danach inne hatten. Da sind wir nun mit dieser Studie einen großen Schritt vorangekommen. Ich will an dieser Stelle auf zwei Teilaspekte eingehen, die für mich wirklich bemerkenswert gewesen sind.
Zum einen hat das Team um Professor Danker die Grundorientierung der Kommunalpolitiker in Süd-Dithmarschen untersucht und herausgearbeitet, dass im Jahr 1948 lediglich eine Person als ‚exponiert nationalsozialistisch‘ bewertet werden musste. Das ist aus Laiensicht erst einmal eine gute Nachricht. Offenbar gab es in der Kommunalpolitik zunächst keine besonders stark ausgeprägte Kontinuität. Erschreckend ist dann aber, dass sich dieser Trend nicht fortsetzte, sondern sich in sein Gegenteil verkehrte. 1955 waren zehn Akteure ‚exponiert nationalsozialistisch‘, eine Verzehnfachung gegenüber 1948! Hinzukommen vier Akteure, die als ‚systemtragend karrieristisch‘ eingeordnet wurden. Waren also 1948 in der Kommunalpolitik Süd-Dithmarschens nur 2,3 Prozent der Akteure nationalsozialistisch vorbelastet, stieg der Anteil in den folgenden sieben Jahren auf 35,9 Prozent an. Das spricht für sich.

Zum anderen hat die Studie einen Themenbereich untersucht, der mich naturgemäß besonders interessiert und das war und ist die schleswig-holsteinische Justiz. Die Ergebnisse der Kontinuitätsstudie sind für meinen Berufsstand erschütternd: 80 Prozent der Akteure der Gruppe der sogenannten ‚Justizjuristen‘ waren Mitglieder der NSDAP und 50 Prozent waren SA-Angehörige. Ein Viertel der untersuchten Personengruppe wurde als Verfolgungsakteure eingeordnet und weiter haben die Forscher um Professor Danker festgestellt, dass sehr viele der untersuchten Justizjuristen einschlägige Erfahrungen als ehemalige Akteure an NS-Sondergerichten und/oder der NS-Wehrmachtsjustiz aufwiesen. Kein gutes Ergebnis für die Justiz und durchaus besorgniserregend für einen Rechtsstaat.

Dass die einschlägige Prägung von Angehörigen der Justiz durch das NS-Regime erhebliche Bedeutung für die Rechtsprechung hatte und Unrecht perpetuiert hat, macht ein seit Jahrzehnten schwelender Meinungsstreit deutlich. Ich spreche von der zwischen Rechtsprechung und Schrifttum nach wie vor offenen Streitfrage, ob Mord im Verhältnis zum Totschlag ein eigenständiges Delikt oder nur ein Qualifizierungstatbestand ist. Dieser Meinungsstreit hat tatsächlich eine sehr bedeutsame Auswirkung auf die Strafbarkeit der sogenannten Schreibtischtäter, die aufgrund der Rechtsprechung des BGH oft nicht wegen Beihilfe oder Anstiftung zum Mord verurteilt werden konnten, obgleich der Unrechtsgehalt ihres Handelns eine entsprechende Bestrafung gerechtfertigt hätte. Erst spät im Zusammenhang mit der gerichtlichen Aufarbeitung der Mauer- und Grenztoten korrigierte sich die Rechtsprechung. Die frühere Rechtsprechung des BGH wurde aber nicht einfach aufgegeben, sondern der BGH entschied sich für das Instrument der Strafschärfung und verhinderte auch hier in vielen Fällen eine dem Unrechtsgehalt der Tat entsprechende Verurteilung.

Mit Verlaub, ich empfinde das als Vertuschung der Tatsache, dass über Jahrzehnte hinweg die Gerichte Deutschlands die Schreibtischtäter des NS-Unrechtsregimes vor harten und gerechten Strafen geschützt haben. In zahllosen Fällen wurde so verhindert, dass die Schreibtischtäter, diejenigen also, die die Vernichtungsmaschinerie des NS-Regimes erdacht und dann administrativ umgesetzt hatten, nicht dem Unrechtsgehalt ihres Handelns entsprechend als Mörder verurteilt werden konnten. Auch das zeigt, wie wichtig eine umfassende Geschichtsaufarbeitung ist.“

Es gilt das gesprochene Wort!