Europa/Brexit

Wolfgang Kubicki: Wir alle tragen Verantwortung für dieses Europa

„Die Europäische Union ohne das Vereinigte Königreich ist schwer vorstellbar. Nicht nur, weil uns ein enger Partner und eine wichtige Stimme für den europäischen und weltweiten Freihandel verloren geht, sondern auch, weil diese Entscheidung weder im Interesse des britischen, noch des europäischen Volkes liegt.

 

Der berühmte Slogan ‚take back control‘ wird mit dem Votum des Referendums ad absurdum geführt, wenn gleichzeitig der Wunsch nach der Teilnahme am europäischen Binnenmarkt besteht und die Wortführer der Exit-Debatte sich feige vor der politischen Verantwortung drücken.

 

Die Abhängigkeit des britischen Volkes wird durch den gewollten Ausschluss von demokratischen Mitbestimmungsrechten nur noch vergrößert, statt vermindert und das Trauerspiel, das die politische Führung abgibt, überträgt automatisch eine bedrohliche Unsicherheit auf Wirtschaft und Gesellschaft.

Die Zunahme von Gewalttaten nach Bekanntgabe des Votums gegenüber Ausländern sollte uns eine Lehre sein.

 

Ein führungsloses Vereinigtes Königreich können sich weder die Briten, noch die EU erlauben.

 

Klar muss sein, dass es dieses Mal keinen Briten-Rabatt geben kann und dass es ‚Europa à la carte‘ so nicht mehr geben darf.

 

Die Gestaltung der zukünftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU müssen im Sinne der Gründerväter, die eine Art assoziierten Status für Nicht-EU-Mitglieder in Europa bereits in den Römischen Verträgen vorgesehen hatten, neu definiert werden.

 

Die möglichen Auswirkungen eines Brexits haben die Briten mit der Abwertung des Pounds sowie den großangelegten Abwanderungsstrategien international agierender Unternehmen bereits zu spüren bekommen, worunter vor allem das eigentliche Prunkstück der britischen Wirtschaft, die City of London, besonders leidet.


Dennoch ist klar, dass das derzeitige Handelsvolumen (Im- und Export) Schleswig-Holsteins mit Großbritannien –  jährlich rund zwei Milliarden Euro –  stark leiden dürfte, wenn es nicht nur einen Exit von der EU, sondern auch vom europäischen Binnenmarkt geben würde. Im Moment ist es schwer, Prognosen über das Ergebnis der Verhandlungen abzugeben.

 

Hinsichtlich der Auswirkungen auf die Europapolitik in Deutschland und Schleswig-Holstein wird sich am Interesse an guten Beziehungen mit dem Vereinigten Königreich nicht viel ändern.

 

Der Antrag, den Sie gestellt haben, führt auch völlig ins Leere. Wenn die Europaministerin Spoorendonk von einer „Zäsur für die europäische Einigung“ spricht, dann haben wir größeren Anlass darüber zu sprechen, wie wir Europa besser machen und nicht, wie Schleswig-Holstein sich nach dem Brexit-Votum verhalten soll.

 

Dies setzt eine Rückbesinnung auf unsere gemeinsamen Werte für Freiheit und Frieden auf dem europäischen Kontinent voraus.

 

Es setzt voraus, dass wir erkämpfte Errungenschaften nicht für selbstverständlich nehmen, sondern als Grundlage gemeinsamer europäischer Politik stärken.

 

Es setzt voraus, dass Europa sich wieder auf die Aufgaben besinnt, die einen echten Mehrwert für die gemeinsame europäische Politik beinhalten.


Die Prioritäten sind jedenfalls seitens der Bürger klar festgelegt: Sicherheitskooperation in Bezug auf den Terrorismus (82%), eine Einigung in der Flüchtlingspolitik (74%) und Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit (77%) sowie gegen Steuerbetrug (75%) laut letzter Eurobarometer-Umfrage.

 

Eine Selbstvergewisserung der Werte europäischer Integration kann offensichtlich nur dann gelingen, wenn wir die inner-europäische Freizügigkeit, die in der Brexit-Debatte oft genug von Populisten für persönliche Zwecke missbraucht wurde, wieder als große Errungenschaft unseres gemeinsamen Binnenmarktes hervorheben; das „Fremde“ nicht als Bedrohung zu betrachten, sondern als (persönliche) Bereicherung und (wirtschaftliche) Chance für die individuelle Entwicklung verstanden werden.

 

Wir müssen auch dafür sorgen, dass in Europa wieder die Regeln eingehalten werden, die wir uns gegeben haben. Im Hinblick auf die Bankbilanzen in Italien und einer notwendigen Reform der Wirtschafts- und Währungsunion ist dies elementar.

 

Wenn man manchem Politiker in Europa dieser Tage zuhört, dann könnte man eher auf die Idee kommen, dass die EU zersprengt werden soll. In einer Zeit der Selbstreflektion unmittelbar nach dem Votum der britischen Bürger nach europäischen Alleingängen zu rufen, ist mit Realitätsverlust noch freundlich umschrieben.

 

Wenn jetzt unsere sozialdemokratischen Freunde nun noch von einer europäischen Regierung träumen, ohne sich genauer mit den eigentlichen Herausforderungen zu beschäftigen, ist das höchst problematisch und den Menschen in Europa kaum zu vermitteln.


Zur Wahrheit gehört aber auch, dass ein Teil der Verantwortung auch uns selbst – und damit meine ich die deutsche Verantwortung für die europäische Idee – zuzuschreiben ist.

 

Hätte die Kanzlerin nur halb so viel Energie dafür verwandt, in Großbritannien für den Verbleib in der EU zu werben, als sie für die Besänftigung Erdogans in Ankara gebraucht hat, wäre zumindest die Chance größer gewesen, das Vereinigte Königreich in der EU zu halten.

 

Aber auch die Landesregierung ist in den letzten Jahren nicht einmal in London gewesen, um für die engen Beziehungen zu werben.

 

Wenn Ministerin Spoorendonk nun öffentlich davon spricht, dass wir mit dem Vereinigten Königreich einen unserer engsten Partner verloren haben, muss doch auch die Frage geklärt werden, wie intensiv auch wir uns um diesen Partner gekümmert haben.


Zum Schluss möchte ich Sie daran erinnern, dass wir alle Verantwortung für dieses Europa tragen und es auch auf uns ankommt, die historische Errungenschaft von 71 Jahren Frieden und Freiheit im Sinne kommender Generationen zu bewahren. Wir haben es in unserer Hand, das Feuer für diese Union neu zu entfachen. Denn: Wir sind Europa!“